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Beziehungskiste

schachtDie Beziehungskiste misst 18 x 7 x 11 cm. Schiebt man den Deckel auf, liegen dort, kreuz und quer und dennoch fein säuberlich getrennt, schwarze und weiße Figuren. Pferde, Türme, Läufer, Bauern, Könige und Königinnen. Alles dabei, was man zum Schachspielen braucht. Meine Tochter mag diese kleine Kiste samt Inhalt und auch das hübsche karierte Brett hat es ihr angetan. Sie versteht es mit ihren vier Jahren sogar schon, die Figuren auf dem Brett korrekt anzuordnen und schon kann es losgehen, das „Schacht-Spiel“.

Eine Partie „Schacht“ weicht ein klein wenig vom ursprünglichen Schachspiel ab. Hier zieht keine Figur stur nach Vorgabe ihre vorhersehbare Bahn übers Karree. Beim „Schacht“ entwickeln die Figuren ein Eigenleben. Und was für eins! Die Bauern tollen vergnügt herum. Auf dem Ball gleich nebenan tanzt der schwarze König mit der weißen Königin, während sich die monochromen Pferde ein Wettrennen mit den quietschrosabunten Fillypferdchen liefern, die urplötzlich auf dem Schachbrett aufgetaucht sind. Bei diesem gesellschaftlichen Großereignis dürfen die Playmobil-Prinzessinnen natürlich nicht fehlen. Sie stehen am Rande der überfüllten Tanzfläche und sind in ein wichtiges Gespräch mit der schwarzen Königin und dem weißen König vertieft. Gerade geht es um die Vorzüge von Kakao gegenüber Apfelsaft.

Auf dem Höhepunkt des Tanzereignisses kommt eine Kutsche herangerollt, gezogen von einem Plastikeinhorn mit tätowierten Hinterläufen. Der Kutsche entsteigt eine weitere Prinzessin. Es ist natürlich Aschenputtel, die auf den letzten Drücker zum Ball eilt, um mit einem der inzwischen zahlreich versammelten Plastikprinzen zu tanzen und diesen dann später, gegen Ende der Schacht-Partie, zu heiraten. Wieder ein Anlass, den so ziemlich alle Figuren tanzenderweise feiern können. Selbst die eher trögen Türme in Schwarz und Weiß können sich jetzt nicht mehr halten und legen eine kesse Sohle aufs karierte Parket. Natürlich erst, nachdem sie festgestellt haben, dass sie und die schwarzweißen Läufer die verschollen geglaubten Brüder und Schwestern sind.

In der kleinen Kiefernholzkiste stecken auf den zweiten – den Kinderblick – keine stilisierten Figuren mit streng vorgegebenen Verhaltensmustern. Man braucht das Schachspiel nur ein klein wenig anders zu nennen und die Figuren nur ein klein wenig anders hinzustellen und schon verschwinden die grauen Vorgaben und ausgeklügelten Strategien und alle Bewohner der Kiste und sämtlicher Spielzeugkisten ringsherum treten in irgendeine Beziehung zueinander. Es wird geschwatzt, getanzt und gefeiert bis das Einhorn wiehert.

Und was können wir Erwachsenen daraus lernen? Keine Ahnung. Schachspielen jedenfalls nicht. Obwohl ich das ganz gern mal lernen würde, denn als Kind habe ich das irgendwie verpasst.

PS bzw. Nachtrag
Nach einer längeren Diskussion mit meinem “schlimmsten Kritiker” über die Verständlichkeit dieses Textes habe ich mich dazu entschlossen, meinen nicht aufgeschriebenen Subtext zum Text lieber noch nachzureichen. Also, der Subtext bedeutet in diesem Falle: Aus einem Strategiespiel – das im Grunde nichts weiter als Krieg imitiert, mit der möglichst vollständigen Vernichtung des Feindes usw. – wird durch die unschuldige Fantasie eines Kindes plötzlich ein Spiel, in dem es um freundschaftliches Miteinander geht. Beziehungen im positiven Sinne werden geknüpft und niemand wird besiegt oder geschlagen oder Schachmatt gesetzt. Deshalb gefällt mir die Idee, die dem “Schacht-Spiel” zugrunde liegt, wesentlich besser als die Ursprungsidee, auf der das Schach-Spiel basiert.