Auf meinem Konto wütet die Ebbe. Was kann ich machen? Richtig! Bücher kaufen. Natürlich nicht für mich, sondern für meine kleine Tochter. Die hat eben tapfer beim Arzt durchgehalten und ich verspreche ihr im Überschwang des warmen Frühlingstages, dass wir zur Belohnung ein Eis essen gehen und ein neues Vorlesebuch kaufen.
„Du willst doch ein Buch?“, frage ich vorsichtshalber noch mal nach, um mein Konto nicht völlig grundlos zu sprengen. Doch das Kind nickt begeistert, reißt beide Hände in die Höhe, streckt alle Finger aus und schreit: „Nicht ein Buch. Zehn Bücher!“
Ich schüttle den Kopf. „Eins reicht erst mal.“
Hinter mir hüstelt jemand. Es ist die Sprechstundenhilfe, die mich darauf hinweist, dass das mit der Zehn ein Angebot zum Feilschen war, auf das ich jetzt eingehen müsse, um nach zähen Verhandlungen die zehn Bücher auf fünf herunterzudrücken. Ich lache über ihren Scherz, winke ab und sage: „Ach wo. Eins genügt.“
Wir verlassen mit insgesamt vier Büchern den Buchladen. Zwei habe ich heimlich wieder zurückgelegt.
In der einen Hand das Eis und in der anderen der schwere Bücherbeutel zottele ich mit meiner Tochter durch die Stadt bis zum nächsten Spielplatz. Ein völlig überlaufener winziger Fleck mit Sand inmitten eines – wenn man so will – sozialen Brennpunkts. Dort drückt sie mir ihren leeren Eisbecher in die Hand und verschwindet spurlos im Getümmel der Kinder. Ich setze mich auf eine Bank, stelle den Beutel neben mich, ziehe ein Buch aus dem selbigen und blättere es durch. Meine Tochter, die sich urplötzlich neben mir materialisiert hat, hängt ihre Nase so dicht über das Buch, dass ich es kaum sehen kann. Doch irgendwann gelingt es meinen Augen, bis zu den Buchstaben vorzudringen und ich fange an, die erste Geschichte laut vorzulesen. Nach drei oder vier Sätzen klammert sich etwas an meine Oberschenkel. Ich schaue nach unten und blicke direkt in die riesigen Kulleraugen eines kleinen, etwa zweijährigen Mädchens, das sich auf meinen Beinen abstützt und mir wie gebannt zuhört. Ich grinse in mich hinein und lese weiter.
Aus dem toten Winkel nehme ich einen Schatten wahr, der sich mit schnellen Schritten nähert und das kleine Mädchen von mir wegreißt. Ich schaue diesmal nach oben. Es ist die große Schwester der Kleinen. Sie wirft mir einen giftigen Blick zu und zerrt die Kleine hinter sich her. Ich zucke mit den Schultern, denke mir: ,Sozialer Brennpunkt. Was soll’s‘, und lese die Geschichte für meine Tochter zu Ende.
Inspiriert von der kleinen Zuhörerin träume ich mich beim Lesen in ein Paralleluniversum, in dem ich eine Märchenvorleserin bin. Ich stelle mir vor, wie ich mit einem quietschbunten Kleinbus herumfahre, ähnlich wie hierzulande die Eisverkäufer, die wie die Krähen um das Aas die Spielplätze umkreisen. Dann bimmele ich mit einer Glocke, und sobald sich eine Kindertraube um den Bus versammelt hat, fange ich an, vorzulesen. Natürlich erst, wenn die Eltern der kleinen Racker einen entsprechenden Obolus in meinen Märchenerzählerinnenhut geworfen haben. Und falls es mal regnet, liest meine parallele Existenz trotzdem, denn dann gibt es gemütliche Sitzplätze im Bus sowie warmen Kakao für die Kinder und heißen Tee für die Eltern. Und an sozialen Brennpunkten wird im Paralleluniversum selbstverständlich ohne Bezahlung vorgelesen.