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Eine Ballerina auf dem Mond

ballerina_2_webDer Frost beißt in meine Finger und frisst sich durch den Stoff meines Dufflecoats. Nur noch ein paar Sekunden, dann sitzen wir im Auto und ich kann die Heizung bis zum Anschlag aufdrehen. Das kleine Kind an meiner Hand zeigt aufgeregt zum dunklen Nachthimmel. „Mama, als ich noch in deinem Bauch war, da war ich so klein wie der Mond.“ Ich wende meinen Blick nach oben. Der Mond, rund und hell, lacht mich an und ich starre grimmig zurück.

Der Mond in meinem Bauch? Sicher, ich hatte damals ein klein wenig zugenommen. Ich ähnelte mehr einem Planetoiden als einer Frau. Und daran hat sich bis heute nur marginal etwas geändert. Aber der Mond? Nein! Der Mond hätte niemals in mich reingepasst. Auch heute nicht. Der ist viel zu groß. Das muss ich sofort klarstellen, noch bevor ich ins Auto zur Heizung flüchte. „Der Mond passt nicht in die Mama rein. Der ist doch riesengroß. Ein kleiner Planet. Ganz weit weg im Weltall.“

Planet, Weltall. Angesichts der Sterne und des leuchtenden Mondes am tintenschwarzen Himmel beeindrucken diese Wörter. Selbst eine Vierjährige mit beruflichen Ambitionen, die mal in Richtung Ballerina und mal in Richtung Prinzessin tendieren, kann sich dem nicht entziehen. Staunend fragt sie: „Oh. Und was ist auf dem Mond? Wohnen da Menschen?“

Ich schiebe die dick in Schneehose und Schneejacke eingepackte Ballerina ins eiskalte Innere des Autos, darauf bedacht, dass ihre voluminöse Bommelmütze nicht abfällt, bugsiere sie auf den Kindersitz und schnalle sie an. An ihren klobigen Stiefeln kleben Schneebatzen, die sie routiniert an meiner Hose abstreift. Dann schwinge ich mich auf den Fahrersitz, starte den Motor und drehe die Heizung bis zum Anschlag auf.

Der Schnee an meiner Hose beginnt zu tauen. Durch das laute Brausen des Lüfters rufe ich: „Da oben auf dem Mond sind nur Steine und Felsen und Staub. Sonst nichts. Dort wohnt keiner.“ Das Lüfterbrausen schickt eine Kinderstimme zu mir zurück, die seltsam erwachsen klingt: „Wenn ich einmal groß bin, dann baue ich Häuser auf dem Mond, in denen Menschen wohnen können.“

Ich erstarre, diesmal nicht vor Kälte, wie vorhin, als wir auf dem spiegelglatten Rodelberg mit den Tücken der vereisten Schlidderbahn und den rutschigen Schuhsohlen kämpften. Ich erstarre für einen kurzen Moment vor Ehrfurcht. So ein kleines Kind mit solchen großen Plänen. Begeistert erzähle ich dem kleinen Mädchen von Raketen und von Astronauten, die schon auf dem Mond herumgelaufen sind, als die Oma noch ganz jung war und dass sie ja vielleicht wirklich mal, wenn sie erwachsen ist, Häuser auf dem Mond bauen wird.

Ich steigere mich ein bisschen in das Thema rein und halte, beflügelt von der Hoffnung, dass die Ballerina-Prinzessinnen-Phase endlich überstanden ist, einen spontanen Kurzvortrag über die Raumfahrt im Allgemeinen und den Mond im Besonderen. Die Kleine im Kindersitz konkretisiert unterdessen die Pläne zur Mondbesiedlung. Mit ihrer seltsam erwachsenen Stimme unterbricht sie meinen Monolog: „Und wenn ich dann die Häuser auf dem Mond gebaut habe, dann wohne ich dort und werde Ballerina.“

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Neulich im Internet

Als Privatfernsehverweigerer lebte ich bis vor kurzem in dem festen Glauben, dass Fernsehserien ausschließlich von Äffchen, Hündchen, Robben, Nonnen, Krankenschwestern und hinderwäldlerischen Dorfpolizisten handeln. Wobei letztere in ihrer pittoresken Kleinstadtidylle einer Mordrate gegenüber stehen, die das schlimmste Viertel von Kapstadt wie ein Kinderferienlager aussehen lässt. Doch ich wurde inzwischen eines Besseren belehrt.

Für eine der Serien ohne Robben und Nonnen kommt bald eine neue Staffel auf DVD heraus. Ein paar eingefleischte Fans haben sich sogar schon durch die englischsprachige Originalversion gequält und erste Rezensionen in einem nicht ganz unbedeutenden Webshop verfasst.

Leider haben die Serienpioniere ihre Englischkenntnisse zu optimistisch eingeschätzt. Deshalb wissen sie nur wenig über die neue Staffel zu berichten und beschränken sich in ihren Rezensionen auf: „Die neue Staffel ist richtig gut!“ oder „Die neue Staffel ist nicht so gut wie die anderen Staffeln.“

Ein Kritiker gab in etwa folgende Einschätzung ab: „Der geplante Verkaufspreis für diese Staffel ist momentan sehr hoch. Aber er wird sicher noch sinken. Ich finde sie leider nicht so gut wie die letzte Staffel, da die Handlung auf mich eher chaotisch und flach wirkt. Deshalb gebe ich ihr nur drei von fünf Sternen.

Blitzschnell stürzte sich ein ganzer Krähenschwarm an treuen Serienfans auf den Kritiker, wie auf einen frisch gepflügten Acker, und hackte mit Hilfe von Kommentaren gnadenlos auf ihn ein:

Fan 1: „Wie kannst du nur sagen, die Staffel ist nicht gut, bloß weil du sie zu teuer findest?!“

Kritiker: „Ich kritisiere nicht den hohen Preis, sondern die recht flache Handlung.“

Fan 2: „Das ist doch total unfair! Du beurteilst die Staffel nur deshalb schlecht, weil sie dir zu viel kostet!“.

Kritiker: „Aber meine Kritik bezog sich doch gar nicht auf den Preis, sondern auf den Inhalt. Lest doch bitte mal genau!“

Fan 3: „Was soll das denn für eine völlig unsachliche Kritik sein, die sich nur auf den angeblich zu hohen Preis bezieht?!“

Kritiker: „Ich habe doch gar nicht geschrieben, dass die Staffel schlecht ist, weil der Preis zu hoch ist. Meine Kritik gilt ausschließlich dem Inhalt.“

Fan 4: „Wie bitte? Weil dir der Verkaufspreis nicht passt, einfach die neue Staffel schlecht machen?! Geht’s noch?!!“

Kurz darauf schrieb ein weiterer Serienpionier eine eigene Kritik zur neuen Staffel und eröffnete sie sinngemäß mit folgenden Worten: „Es ist absolut nicht nachvollziehbar, wieso mein Vorgänger die neue Staffel allein wegen des für ihn zu hohen Verkaufspreises schlecht beurteilt. Sie ist voll der Hammer. Einfach super!“

Ich glaube, ich weiß ganz genau, wer niemals wieder eine Serienkritik schreiben wird.

(Anmerkung d. Red.: Dieser Text ist schon gut ein Jahr alt. Seit einem Monat besitze ich eine weitere Staffel dieser Serie, die ich mir aber noch nicht angeschaut habe. Die letzte Staffel war nämlich inhaltlich etwas flach und verworren, weshalb ich eigentlich gar keine so große Lust auf die Fortsetzung habe.)

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Im Auge des Sturms

tornadoDer Tornado tobt durch die Wohnung. Wenn sich der Wirbelwind erhebt, bleibt kein Baustein auf dem anderen. Bücher fliegen aus den Regalen und landen im Bett oder darunter. Er reißt Puppen und Plüschtiere mit sich. Sie prasseln zu Boden und schlagen hart auf. Der Tornado fegt gnadenlos über ihre weichen Körper hinweg und lässt einen Platzregen aus Spielsachen auf sie niedergehen.

Er saugt Lieblingskleider und Schuhe an, zerrt sie ins Auge des Sturms und verteilt sie auf dem Sofa und im Bad. Er öffnet die Schleusen des Wasserhahns. Das kühle Nass sprudelt in einen Spielzeugeimer, der ein Vielfaches von dem fasst, was sein Äußeres vermuten lässt. Der Tornado wirbelt das Wasser durch den Flur und schüttet es im Wohnzimmer neben den Lesesessel.

Wenn die Sonne scheint, knipst er alle Lichter an. Sobald sie untergeht, knipst er sie wieder aus. Der Tornado hat eine winzige Taschenlampe. Das reicht ihm im Dunkeln. Und allen anderen muss es auch reichen.

Der Tornado kennt kein Mitleid mit Haustieren. Er zieht sie einfach am Schwanz und es ist ihm egal, dass es Raubtiere sind, mit zentimeterlangen, nadelspitzen Fangzähnen. Der Tornado ist viel zu respekteinflößend. Auch für Raubtiere. Sie flüchten auf den Schrank.

Nur eines kann ihn bremsen. Das bunte Flimmern. Trifft der Tornado auf das Flimmern, frieren seine Bewegungen schlagartig ein. Regungslos starrt er auf das leuchtende Rechteck. Minutenlang. Vielleicht sogar stundenlang. Die Augen sind weit aufgerissen. Der Glanz darin erloschen. Der Mund ist halb geöffnet. Er spricht nicht mehr. Der Tornado ist paralysiert. Seine Zerstörungswut ist gebannt. Seine Lebensfreude gefesselt. Seine Fantasie betäubt. Der Tornado sieht fern und vergisst alles um sich herum. Einschließlich sich selbst.

Die Mutter des Tornados  befällt das schlechte Gewissen. Sie hört auf, die Ruhe des Sturms zu nutzen. Sie hört auf, die Bausteine in die Kiste zu werfen, die Bücher einzusortieren und die Puppen und Plüschtiere zu retten. Das Wasser auf dem Teppichboden lässt sie Wasser sein. Es wird schon nicht bis zum Nachbarn durchsickern. Hoffentlich.

Sie holt tief Luft, wappnet sich innerlich gegen das Sturmgebrüll, das gleich losheulen wird, zückt die Fernbedienung und knipst den Kinderkanal aus. Der Tornado brüllt und tobt. Die Mutter träumt von Ohrenstöpseln und holt ein Märchenbuch aus dem Regal. Sie setzt sich aufs Sofa und beginnt laut vorzulesen.

Das Sturmgebrüll flaut ab. Der Tornado kuschelt sich aufs Sofa, ganz dicht an die lesende Mutter. Er ist still und konzentriert. Seine Augen leuchten. Der kleine Mund lächelt. Der Tornado hört aufmerksam zu und blättert schon mal ganz vorsichtig bis zur nächsten Geschichte weiter. Die mit der Prinzessin und dem Drachen.

PS: Und falls die Großeltern des Tornados noch eine Rechnung mit dessen Eltern offen haben sollten, empfehle ich, zum nächsten Advent dem kleinen Goldspatz einen Adventskalender von Playmobil zu schenken. Die unzähligen, fast schon mikroskopisch kleinen Einzelteile sind eine prima Munition für den Tornado und beschäftigen die Eltern stundenlang, die sie auf Knien in der ganzen Wohnung zusammensuchen müssen. Und wehe, es fehlt ein Teilchen.